Weltklasse. Schule für das 21. Jahrhundert gestalten

(Auszug mit freundlicher Genehmigung von Andreas Schleicher; OECD Publishing, Paris, 2019)

Bildungserfolg ist eine Frage der Begabung

Viele Bildungspsychologen haben mit ihren Schriften die Idee genährt, dass nicht so sehr Fleiß, sondern vielmehr angeborene Intelligenz für gute Leistungen ausschlaggebend sei. In der PISA-Studie wird nicht nur das Wissen der 15-Jährigen getestet, sondern sie werden auch gefragt, welchen Faktoren es ihrer Meinung nach zuzuschreiben ist, wenn sie bei solchen Tests nicht erfolgreich sind. In vielen Ländern geben die Schülerinnen und Schüler hier gerne allem und jedem die Schuld – nur nicht sich selbst. In Frankreich, wo die Leistungen im PISA-Test 2012 dem Durchschnitt entsprachen, gaben mehr als drei Viertel der Schülerinnen und Schüler an, der Stoff sei einfach zu schwierig gewesen. Zwei Drittel antworteten, dass es den Lehrern nicht gelungen sei, die Schüler für den Stoff zu interessieren, und jeder zweite gab an, dass die Lehrer den Stoff nicht gut erklärten oder dass man manchmal einfach kein Glück habe.

In Singapur fielen die Ergebnisse ganz anders aus. Dort waren die Schülerinnen und Schüler überzeugt, dass sie in der Schule Erfolg haben können, wenn sie sich richtig anstrengen, und vertrauten darauf, dass ihre Lehrkräfte ihnen dabei helfen. Diese feste Überzeugung der Schülerinnen und Schüler einiger Länder, dass gute Leistungen hauptsächlich das Ergebnis harter Arbeit und nicht etwa angeborener Intelligenz sind, zeigt, welch starken Einfluss die Bildungssysteme und die Gesellschaft insgesamt auf die Einstellungen der Schüler zu Schule und Erfolg haben können.

Eines der schlüssigsten Ergebnisse der PISA-Studie ist, dass in den meisten Ländern, in denen die Schülerinnen und Schüler davon überzeugt sind, für ihren schulischen Erfolg hart arbeiten zu müssen, praktisch alle Schüler durchgehend hohe Leistungsstandards erfüllen (vgl. Kapitel 3).

Ein Vergleich zwischen Schulnoten und Schülerleistungen in PISA ergibt außerdem, dass nach Berücksichtigung von Faktoren wie Lesekompetenz, Lerngewohnheiten sowie Einstellungen zu Schule und Lernen sozioökonomisch begünstigte Schülerinnen und Schüler von ihren Lehrern in der Regel besser benotet werden als ihre Mitschüler mit ungünstigerem sozioökonomischem Hintergrund. Diese Praxis könnte aus zwei Gründen weitreichende – und langfristige – Folgen haben: Erstens haben die Noten, die die Schülerinnen und Schüler in der Schule erzielen, häufig Einfluss darauf, welche Pläne sie für ihre weitere Bildungslaufbahn und ihren späteren Berufsweg haben. Zweitens sind die Noten der Maßstab, anhand dessen im Schulsystem entschieden wird, welche Schülerinnen und Schüler zur Hochschulreife führende Bildungsgänge absolvieren sollten, und sie sind später ausschlaggebend für den Hochschulzugang.

Kurz gesagt, ist es unwahrscheinlich, dass Schulsysteme das Leistungsniveau der am besten abschneidenden Länder erreichen werden, solange sie nicht anerkennen, dass alle Kinder hohen Lern- und Leistungsanforderungen genügen können, wenn sie sich anstrengen und entsprechend gefördert werden.