Psychologie des Unterrichts

(Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlags Ferdinand Schöningh: Mareike Kunter / Ulrich Trautwein: Psychologie des Unterrichts; 2013, Paderborn. Verlag Ferdinand Schöningh) 

Professionelle Überzeugungen

Unter dem Begriff "Überzeugungen" werden die Vorstellungen, Annahmen und Meinungen von Lehrkräften, die schulische oder unterrichtsbezogene Phänomene und Prozesse betreffen, zusammengefasst. Anders als Wissen, welches sich inhaltlich auf Fakten, Schemata oder Strukturen bezieht, repräsentieren die Überzeugungen von Personen deren Eindrücke, Meinungen, Bewertungen oder auch subjektive Erklärungssysteme (Parjares; 1992). Jeder Lehrer und jede Lehrerin formt im Laufe der beruflichen Entwicklung bestimmte Überzeugungen, zum Beispiel über seine/ihre Tätigkeit, über bestimmte Schülerinnen und Schüler, über Lernen und Unterrichten, den Bildungskontext oder Bildung allgemein (Woolfolk Hoy, Davis & Pape, 2006). Diese Überzeugungen haben natürlich Konsequenzen dafür, welche professionellen Entscheidungen Lehrkräfte treffen und wo sie die Schwerpunkte ihrer Arbeit setzen. Überzeugungen sind persönliche Bewertungen, die immer eine subjektive Komponente enthalten und daher nicht per se als richtig oder falsch bewertet werden können. Gleichzeitig können natürlich Überzeugungen mehr oder weniger gut begründet sein; manche Überzeugungen beruhen auf falschen Prämissen und schränken dann das Handeln von Lehrkräften ein. Empirisch lässt sich deshalb auch zeigen, dass der Unterrichtserfolg auch von den Einstellungen der Lehrkräfte abhängt. Wir wollen dies anhand von zwei Beispielen erläutern.

Die psychologische Forschung hat erstens gezeigt, dass Lehrkräfte oft bestimmte Vorstellungen darüber haben, was gewisse Schüler oder Schülergruppen zu leisten in der Lage sind, und dass diese Vorstellungen ihr Verhalten diesen Schülern gegenüber beeinflussen können. Die Forschung zu Erwartungseffekten zeigt beispielsweise, dass Lehrkräfte denjenigen Schülerinnen und Schülern, von denen sie geringere Lernfähigkeit annehmen, oft weniger anspruchsvolle Aufgaben geben. Weiterhin verhalten sich Lehrkräfte häufig auch diesen Kindern oder Jugendlichen gegenüber weniger freundlich und aufgeschlossen (Harris & Rosenthal, 1985). Dies hat wiederum Effekte auf die Leistungen der betroffenen Schülerinnen und Schüler. Offensichtlich können geringe Erwartungen einen negativen Effekt auf die Anstrengungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler ausüben (siehe Kapitel 2). Ganz besonders bedenklich sind diese Überzeugungen der Lehrkräfte dann, wenn die negativen Erwartungen der Lehrkräfte auf Basis von Informationen entstehen, die mit dem tatsächlichen Potenzial der Schüler nichts zu tun haben - wie etwas dem sozialen Hintergrund oder der physischen Attraktivität (Jussim & Harber, 2005).

Als ein weiteres Beispiel seien die lerntheoretischen Überzeugungen von Lehrkräften genannt. Wir haben in Kapitel 2 verschiedene psychologische Theorien kennengelernt, die beschreiben, warum und wie wir lernen, zum Beispiel die Informationsverarbeitungstheorie oder die sozio-konstruktivistischen Lerntheorien. Wie verschiedene empirische Studien zeigen, haben auch Lehrkräfte subjektive Theorien darüber, wie Lernen funktioniert (Dubberke, Kunter, McElvany, Brunner & Baumert, 2008; Staub & Stern, 2002). So gibt es Lehrkräfte, die Lernen fast wie eine Fernsehsendung, im Sinne eines "Sender-Empfänger-Modells", verstehen (die Lehrkraft stellt den Lernstoff zur Verfügung, die Schülerinnen und Schüler merken sich den Stoff) und deshalb besonderen Wert auf klare Präsentation und Anleitung legen. Andere Lehrkräfte verstehen Lernen eher als einen sozialen Prozess und achten daher besonders darauf, dass Schülerinnen und Schüler Gelegenheit für sozialen Austausch und Diskussionen erhalten. Problematisch wird es auch hier wieder, wenn diese Überzeugungen das Handeln der Lehrkraft deutlich einschränken und bestimmte erwiesenermaßen lernförderliche Methoden oder Zugänge abgelehnt werden, weil sie nicht zu den Einstellungen "passen". So lässt sich beobachten, dass Lehrkräfte, die Lernen vor allem als Sender-Empfänger-Modell verstehen, ihren Klassen weniger kognitiv aktivierende Aufgaben geben und den Lernenden weniger konstruktive Unterstützung bieten (Dubberke et al., 2008; Staub & Stern, 2002).

Unsere Überzeugungen sind uns nicht immer bewusst und manchmal auch nicht direkt zugänglich. Häufig haben sich bestimmt Vorstellungen darüber, wie Unterricht oder Lernen funktioniert, schon früh, oft sogar während der eigenen Schulzeit, herausgebildet. Die reflektierte Auseinandersetzung mit den eigenen Überzeugungen und die bewusste Überprüfung, inwieweit die eigenen Bewertungssysteme das berufliche Handlen möglicherweise einschränken, gelten daher als eine wichtige Komponente der Professionalität von Lehrkräften (Bromme, 1997; Woolfolk Hoy, et al., 2006).