Freistellermotiv aus dem aktuellen Jahresbericht 2022/23

Raum für Kooperation

Im Juli 2023 veröffentlichte der Wissenschaftsrat seine „Empfehlungen zur Lehramtsausbildung im Fach Mathematik“. Darin plädiert er unter anderem für eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Schulen und Hochschulen. Dazu befragen wir Rainer Kaenders, Professor am Mathematischen Institut der Universität Bonn und einer der beiden Vorsitzenden im Aufgabenausschuss der Bundesweiten Mathematik-Wettbewerbe. Er wünscht sich mehr Freiräume für die Talentförderung.

Bildung & Begabung: Herr Kaenders, Sie sind Experte für Mathematikdidaktik, das heißt, Sie bereiten zukünftige Lehrerinnen und Lehrer auf ihre Aufgabe vor. Was sind die wichtigsten Aspekte, die Sie Ihren Studierenden vermitteln wollen?

Rainer Kaenders: Mir ist wichtig, dass sie ein eigenes Verhältnis zur Mathematik entwickeln. Das bedeutet, dass sie bestimmte Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben. Aber auch, dass sie einen eigenen Geschmack und eigene Lernwünsche entwickeln, dass sie sich im Kulturbereich Mathematik selbstbestimmt bewegen können. Sie sollten lernen, eine Haltung vorzuleben: Eigenständiges Denken, die Kreativität und Freude an der Mathematik, ihre Nützlichkeit aber auch ihre Eleganz – alles Aspekte, die man selbst empfinden lernen muss, bevor man sie weitergeben kann.

B&B: Wie hat sich das Lehramtsstudium der Mathematik in den letzten Jahren verändert?

Rainer Kaenders: Nach dem „Schock“ durch die PISA-Studie im Jahr 2003 und der Einführung des Bachelor-Master-Systems haben wir ganz vieles, was eigentlich eine lange Entwicklung hinter sich hatte, über Bord geworfen. Das hatte auch Folgen für die Fachlichkeit im Studium des Lehramts Mathematik. Wir haben ein Schulsystem, das ganz stark auf Output setzt. Die Talentförderung findet zwar noch über die Schulen statt, doch sind die Inhalte häufig weit von denen im Schulsystem entfernt. Wenn ich heute mit Teilnehmern aus dem Bundeswettbewerb Mathematik spreche, sehen sie so gut wie keine Verbindung zwischen dem Mathematikunterricht in der Schule und den Aufgaben in der außerschulischen Talentförderung. Und im Gegenzug werden Dinge, die eigentlich seit 2.000 Jahren zur selbstverständlichen Basis im Mathematikunterricht gehört haben, jetzt als optionale Vorschläge zur „Talentförderung“ in der Schule dargestellt.

B&B: Zum Beispiel?

RK: In der Mittelstufe gab es immer ein klein wenig euklidische Geometrie, wie z.B. den Umfangswinkelsatz. Jetzt wissen die Schülerinnen und Schüler oft nicht mal mehr, dass die Mittelsenkrechten im Dreieck sich in einem Punkt schneiden. Vor allem können sie es nicht beweisen. Und auch im Leistungskurs der Oberstufe ist vieles verschwunden. Z. B. sind aus der klassischen Kurvendiskussion alle Subtilitäten um den Monotoniesatz verschwunden. Vielleicht muss man ja auch nicht Analysis in der Schule unterrichten – es gibt gute Argumente dagegen – doch, wenn man es tut, muss man ihr ansatzweise gerecht werden. Ein Thema, wie der Goldene Schnitt, Kegelschnitte, echte physikalische Kontexte oder klassische Geometrie würden das Denken vielleicht viel mehr schulen und bergen kulturell und technisch gesehen sehr viele interessante Aspekte. Hier und da wird dies auch in der Schule behandelt, aber man könnte so viel mehr daraus machen, auch im Mathematikunterricht.

B&B: Was muss sich aus Ihrer Sicht verbessern?

RK: Wir müssen den Lehrkräfteberuf in seinem Renommee wieder aufwerten und den Kolleginnen und Kollegen wieder etwas zutrauen – ja, wieder mehr gesellschaftliches Vertrauen schenken. Nach PISA hat man den Lehrkräften ganz viel abgesprochen – zum Beispiel die Fähigkeit, die Leistungen ihrer eigenen Schülerinnen und Schüler zu prüfen. Gerade engagierte Mathematiklehrende sind dadurch häufig frustriert, wenn sie sehen, dass die zentralen Tests nicht annähernd das Niveau ihres Unterrichts erreichen. Wenn Mathematikunterricht Kreativität hervorbringen und Talente sichtbar machen soll, brauchen wir mehr Freiheit, als das im Moment der Fall ist. Wenn wir in der Schule alles auf Tests abstellen, die immer mehr zu Systemleistungen werden, werden wir auch weniger Talente fördern und entdecken. Die gängigen Mathematiktests kann im Grunde jeder bestehen, der genug Mühe und Nachhilfe, und damit auch Geld, hineinsteckt. In der Mathematikdidaktik hat die Politik seit 20 Jahren auf die quantitativ empirische Forschung gesetzt. Doch die kann immer nur zeigen, was nicht funktioniert und wir sehen nach Jahren der Kompetenz- und Outputorientierung, dass der Mathematikunterricht immer weniger gelingt. Durch quantitative Empirie entstehen eben nicht fachdidaktische und pädagogische Konzepte.

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B&B: Und in puncto mathematischer Lehrkräfteausbildung? Hier regt der Bericht des Wissenschaftsrates unter anderem eine stärkere Kooperation zwischen Hochschulen und Schulen an – also genau Ihr Wirkungsfeld.

RK: Ja, die brauchen wir natürlich im Rahmen der Bildung von Lehrkräften und sicher sollte die Fachdidaktik Mathematik hier eine wichtige Rolle spielen, wie dies der Wissenschaftsrat auch vorschlägt. Positiv sehe ich die vom Wissenschaftsrat vorgeschlagene Lehrkraft mit nur einem Fach. Warnen möchte ich jedoch ausdrücklich davor, die Lehrkräftebildung zu einem „Training on the Job“ zu verkürzen. Erst eine gewisse Ferne von der Schulpraxis erlaubt die Entwicklung eines unabhängigeren Blickes auf dieselbe. Die didaktische Zusammenarbeit zwischen Schule und Universität sollte aus meiner Sicht auch inhaltlich in Bezug auf das Fach stattfinden. Ich habe zwölf Jahre lang in den Niederlanden gearbeitet: Früher war dort zum Beispiel bei allen mündlichen Abiturprüfungen jemand aus der Universität dabei. Darüber kamen die Lehrerinnen und Lehrer mit den Universitätsdozierenden ins Gespräch über die Aufgaben, Prüfungsinhalte und mehr.

B&B: So ähnlich ist es ja auch beim Bundeswettbewerb Mathematik …

RK: Ja, genau. Ich finde diese Wettbewerbsform sehr gelungen. Auch weil es eben ein Hausaufgabenwettbewerb ist, der Schülerinnen und Schüler nicht unter Druck setzt, sondern ihnen die Möglichkeit bietet, sich Zeit zur Lösung der Aufgaben zu nehmen. Man kämpft nicht gegeneinander, sondern setzt sich nur mit den Aufgaben auseinander. Aber auch im Hintergrund arbeiten alle möglichen Menschen zusammen, beispielsweise in der Aufgabenkommission. Dadurch wird gemeinsam eine gewisse Aufgabenkultur gepflegt, vonseiten der Schulen wie von den Universitäten.

B&B: Die außerschulische Talentförderung als Testlabor für Innovationen in der Lehrkräfteausbildung?

RK: Warum nicht? In der dritten Runde des Bundeswettbewerbs beraten Hochschullehrerinnen und -lehrer und gymnasiale Mathelehrkräfte gemeinsam darüber, wer von den Teilnehmenden zum Beispiel in die Studienstiftung aufgenommen wird. Solche Orte, an denen man sich begegnet, wo man sich inhaltlich austauscht, aber auch wechselseitig ernst nimmt – die braucht es mehr.

B&B: Welche Kooperationsformen gibt es sonst noch zwischen Universitäten und den Bundesweiten Mathematik-Wettbewerben?

RK: Die Mathematikdidaktik der Universität Bonn arbeitet zum Beispiel mit den Mathematik-Wettbewerben beim Programm „Jugend trainiert Mathematik“ zusammen. In diesem Rahmen bieten wir auch ein Praktikum an, bei dem Studierende Korrespondenzbriefe mitbetreuen und in Mathecamps mitarbeiten. Mathematikstudierende haben häufig bereits als Schülerinnen und Schüler Erfahrungen im Bereich der außerschulischen Talentförderung sammeln können.

B&B: Gilt das auch für Lehramtsstudierende?

RK: Bei Lehramtsstudierenden gibt es das eben viel weniger. Es ist aus meiner und der Sicht einiger Kolleginnen und Kollegen wichtig, gerade Lehramtsstudierende in Kontakt mit dieser Förderkultur zu bringen. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Die Lehramtsstudierenden, die so etwas betreuen können, sind besonders motivierte Studierende. Ich würde mir wünschen, dass es davon noch mehr gibt: Menschen, die aus der Förderung ihrer eigenen Begabung den Schluss ziehen, dass sie vielleicht auch selbst den Beruf der Mathematiklehrerin oder des Mathematiklehrers ergreifen möchten.

Prof. Dr. Rainer Kaenders

Rainer Kaenders ist Professor für Mathematik und ihre Didaktik an der Universität Bonn. Sein Lehrstuhl unterstützt das Förderprogramm „Jugend trainiert Mathematik“ von Bildung & Begabung sowie die neue „Mathe-AG at Home“, eine digitale Lernumgebung für Schülerinnen und Schüler, in der sie unter Anleitung von Lehramtsstudierenden an mathematischen Themen mit aktuellem Bezug arbeiten.

Rainer Kaenders ist Professor für Mathematik und ihre Didaktik an der Universität Bonn.

Mathe-AH, kurz für Mathe-AG at Home, ist ein digitales Angebot der Bundesweiten Mathematik-Wettbewerbe von Bildung & Begabung. Hier können Schülerinnen und Schüler ab der sechsten Klasse ihre mathematischen Interessen entdecken und vertiefen. Besonders Jugendliche, die außerhalb der Schule nur begrenzte Möglichkeiten zur mathematischen Förderung haben, finden hier eine einladende Plattform.

In der Mathe-AH können engagierte angehende Lehrkräfte ihre Begeisterung für Mathematik mit Schülerinnen und Schülern ab der sechsten Klasse teilen – und gleichzeitig wertvolle Erfahrung sowie Leistungspunkte sammeln. Gemeinsam mit einer Partnerin oder einem Partner leiten Sie digitale Kurse, die sich innerhalb von drei Monaten über acht bis zehn Einheiten erstrecken – jeweils von 60 bis 90 Minuten Dauer.

  • Volle Flexibilität bei der Terminplanung: Sie können sich bei der Planung an den gewohnten schulischen Nachmittagsangeboten orientieren, ohne Ihren Zeitplan zu überlasten.
  • Interaktive Kurse: Die Kurse bieten Raum für kreatives Denken und Lehren. Sie können Themen auswählen, die Ihre Leidenschaft widerspiegeln, und sie mit einem aktuellen Praxisbezug gestalten, um Schülerinnen und Schüler für die faszinierende Welt der Mathematik zu begeistern. Dabei unterstützen wir Sie gerne bei Bedarf.

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Eine Person schreibt auf einer Tastatur, hinter der zwei Zauberwürfel stehen.

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