
Der diskrete Charme
der Geometrie
Günter M. Ziegler arbeitet in der vierten Dimension
Wer einmal versucht, sich einen vierdimensionalen Würfel oder gar einen anderen vierdimensionalen Vielflächner vorzustellen, stößt vermutlich schnell an die Grenzen seiner Vorstellungskraft. Objekte in mehr als drei Dimensionen bereiten den meisten Menschen Probleme. Günter M. Ziegler auch. Sonst würde er sich vermutlich gar nicht erst für die Vielflächner interessieren.
19.10.2017
Text: Kathrin Westhölter, Fotos: Anikka Bauer
Günter M. Ziegler ist Mathematiker, genau genommen Professor für Diskrete Geometrie und – einfach ausgedrückt – passionierter Problemlöser. Zumindest wenn es um abstrakte Figuren geht, die es gilt, mathematisch zu beschreiben, durch Visualisierungen zu konkretisieren und gedanklich „greifbar“ zu machen. Probleme im Zusammenhang mit vierdimensionalen Vielflächnern, die im Fachjargon Polytope heißen, zu lösen, reizt den Professor an der Freien Universität Berlin und Leiter der Graduiertenschule Berlin Mathematical School.
Seit mehr als 20 Jahren findet Ziegler immer wieder andere Techniken, unerprobte Zugänge und neue Perspektiven, um die Vielflächner in der vierten Dimension zu bezwingen. Spätestens seit seinem 1995 veröffentlichen Lehrbuch „Lectures on Polytopes“ hat er sich damit in der Forschung einen Namen gemacht. Die Liebe zum Problemlösen entdeckte er in der neunten Klasse, als er zum ersten Mal beim Bundeswettbewerb Mathematik teilnahm. Bis zum Abitur blieb er dabei, holte zweimal den Bundessieg und 1981 sogar Gold bei der Internationalen Mathematik-Olympiade in Washington D. C. Den Bundeswettbewerb Mathematik nennt der gebürtige Münchner und heutige Wahlberliner gern „Problemlösungswettbewerb“. Denn mit Rechnen hat das Knobeln an komplexen Problemen wenig zu tun, und bis heute gilt für Ziegler: „Eine schöne Lösung ist eine, die nicht viel Rechnung braucht.“ Was es braucht, sei vielmehr die Lust daran, sich komplizierten Strukturen zu stellen, und die Begeisterung, Probleme von unterschiedlichen Seiten anzugehen.
„Sugar cubes, soap bubbles, a revolution and a star“
Von ungewöhnlichen Perspektiven und charmanten Zugängen zur Geometrie spricht er nicht nur, er lebt sie. Schon im Studium hörte er neben Mathematik
und Physik Vorlesungen über Philosophie und über moderne Lyrik und absolvierte ein Seminar in juristischer Rhetorik. Seine Vorträge tragen Titel wie „Sugar
cubes, soap bubbles, a revolution, and a star“. Und in Zieglers Lehrbüchern begegnet man Zitaten aus „Puder Bär“ oder den „VZSZE“ („Vorgänge zu schwierig zu erklären“) aus Salman Rushdies „Harun und das Meer der Geschichten“.
Letzteres wäre auch eine geeignete Antwort auf eine typische Frage, die dem Mathematiker immer wieder gestellt wird: Ob er mal in zwei Sätzen erklären könne, woran er arbeitet? Kann er nicht. Dafür ist seine Mathematik zu abstrakt, zu kompliziert, zu gewöhnungsbedürftig. Aber dafür auch umso spannender, findet Ziegler und engagiert sich für ein vielfältiges und lebendiges Bild der Mathematik in der Öffentlichkeit. 2008 initiierte er das deutschlandweite „Jahr der Mathematik“. Er baute ein Medienbüro bei der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) auf, hält Vorträge und veröffentlicht Bücher, die auch Nicht-Mathematikern Lust auf die Welt der Zahlen machen. Neben zahlreichen forschungsbezogenen Auszeichnungen erhielt er 2008 für dieses Engagement den Communicator-Preis für Wissenschaftsvermittlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Stifterverbandes.

Das Image seiner Wissenschaft liegt Günter M. Ziegler am Herzen, er will Begeisterung wecken. In seiner Arbeitsgruppe an der FU arbeiten mehr Doktorandinnen als Doktoranden. Doch gerade was das Image der Mathematik bei Schülerinnen angeht, ist noch Luft nach oben. „Es gibt viele Mathematikerinnen, die großartige Vorbilder sind“, sagt Ziegler. Aber auch Väter und insbesondere Mütter müssten Mädchen ein schwieriges Fach wie Mathematik zutrauen: „Wenn Eltern ihre Tochter in die Schule schicken mit einem T-Shirt, auf dem steht ‚In Mathe bin ich Deko‘, dann ist das eine Ohrfeige! Dann wird das Mädchen nie den Spaß und das Selbstvertrauen entwickeln, die man braucht, um sich für ein schwieriges Fach wie Mathe zu begeistern.“
„Käpt’n Blaubär“
Ziegler selbst begeistert sich neben der Mathematik für Musik jeglicher Art und für Literatur, von Klassikern bis Science-Fiction, von Thomas Mann bis
„Käpt’n Blaubär“. Eines seiner Lieblingsbücher ist „Lieblose Legenden“ von Wolfgang Hildesheimer. Eine Geschichte darin – „Das Gastspiel des Versicherungsagenten“ – handelt von einem weltberühmten Pianisten, der tieftraurig ist, weil er so viel lieber Versicherungsvertreter geworden wäre. „Das trifft schon ein bisschen meinen Humor“, sagt Ziegler. Und es passt gewissermaßen auch zur Vielschichtigkeit seiner Person. Seine Tätigkeit beschreibt er selbst als „60 Prozent Forschung, 60 Prozent Lehre, 60 Prozent Verwaltung“. Dazu ist er noch PR-Manager und Markenbotschafter der Mathematik. Sein Herz hängt aber besonders an der Polytopen-Forschung und der Lehre.
Als Schüler habe er darüber nachgedacht, Medizin zu studieren – oder „irgendwas mit Menschen“. Inzwischen sei er aber sicher, dass er kein guter Arzt geworden wäre, sagt Ziegler. Außerdem habe er erkannt, dass Mathematik doch ziemlich viel mit Menschen zu tun hat, nicht zuletzt in der Lehre und beim gemeinsamen Problemlösen. Und damit wären wir wieder bei seiner Faszination für die vierdimensionalen Vielflächner. Anders als der begnadete, aber traurige Pianist hat Günter M. Ziegler die letzten 20 Jahre keinen Gedanken daran verschwendet, was er geworden wäre, wenn nicht Mathematiker. Ein Glück!
Text: Kathrin Westhölter, Fotos: Anikka Bauer
Günter M. Ziegler ist Mathematiker, genau genommen Professor für Diskrete Geometrie und – einfach ausgedrückt – passionierter Problemlöser. Zumindest wenn es um abstrakte Figuren geht, die es gilt, mathematisch zu beschreiben, durch Visualisierungen zu konkretisieren und gedanklich „greifbar“ zu machen. Probleme im Zusammenhang mit vierdimensionalen Vielflächnern, die im Fachjargon Polytope heißen, zu lösen, reizt den Professor an der Freien Universität Berlin und Leiter der Graduiertenschule Berlin Mathematical School.

„Sugar cubes, soap bubbles, a revolution and a star“
Von ungewöhnlichen Perspektiven und charmanten Zugängen zur Geometrie spricht er nicht nur, er lebt sie. Schon im Studium hörte er neben Mathematik
und Physik Vorlesungen über Philosophie und über moderne Lyrik und absolvierte ein Seminar in juristischer Rhetorik. Seine Vorträge tragen Titel wie „Sugar
cubes, soap bubbles, a revolution, and a star“. Und in Zieglers Lehrbüchern begegnet man Zitaten aus „Puder Bär“ oder den „VZSZE“ („Vorgänge zu schwierig zu erklären“) aus Salman Rushdies „Harun und das Meer der Geschichten“.
Letzteres wäre auch eine geeignete Antwort auf eine typische Frage, die dem Mathematiker immer wieder gestellt wird: Ob er mal in zwei Sätzen erklären könne, woran er arbeitet? Kann er nicht. Dafür ist seine Mathematik zu abstrakt, zu kompliziert, zu gewöhnungsbedürftig. Aber dafür auch umso spannender, findet Ziegler und engagiert sich für ein vielfältiges und lebendiges Bild der Mathematik in der Öffentlichkeit. 2008 initiierte er das deutschlandweite „Jahr der Mathematik“. Er baute ein Medienbüro bei der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) auf, hält Vorträge und veröffentlicht Bücher, die auch Nicht-Mathematikern Lust auf die Welt der Zahlen machen. Neben zahlreichen forschungsbezogenen Auszeichnungen erhielt er 2008 für dieses Engagement den Communicator-Preis für Wissenschaftsvermittlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Stifterverbandes.

Das Image seiner Wissenschaft liegt Günter M. Ziegler am Herzen, er will Begeisterung wecken. In seiner Arbeitsgruppe an der FU arbeiten mehr Doktorandinnen als Doktoranden. Doch gerade was das Image der Mathematik bei Schülerinnen angeht, ist noch Luft nach oben. „Es gibt viele Mathematikerinnen, die großartige Vorbilder sind“, sagt Ziegler. Aber auch Väter und insbesondere Mütter müssten Mädchen ein schwieriges Fach wie Mathematik zutrauen: „Wenn Eltern ihre Tochter in die Schule schicken mit einem T-Shirt, auf dem steht ‚In Mathe bin ich Deko‘, dann ist das eine Ohrfeige! Dann wird das Mädchen nie den Spaß und das Selbstvertrauen entwickeln, die man braucht, um sich für ein schwieriges Fach wie Mathe zu begeistern.“
„Käpt’n Blaubär“
Ziegler selbst begeistert sich neben der Mathematik für Musik jeglicher Art und für Literatur, von Klassikern bis Science-Fiction, von Thomas Mann bis
„Käpt’n Blaubär“. Eines seiner Lieblingsbücher ist „Lieblose Legenden“ von Wolfgang Hildesheimer. Eine Geschichte darin – „Das Gastspiel des Versicherungsagenten“ – handelt von einem weltberühmten Pianisten, der tieftraurig ist, weil er so viel lieber Versicherungsvertreter geworden wäre. „Das trifft schon ein bisschen meinen Humor“, sagt Ziegler. Und es passt gewissermaßen auch zur Vielschichtigkeit seiner Person. Seine Tätigkeit beschreibt er selbst als „60 Prozent Forschung, 60 Prozent Lehre, 60 Prozent Verwaltung“. Dazu ist er noch PR-Manager und Markenbotschafter der Mathematik. Sein Herz hängt aber besonders an der Polytopen-Forschung und der Lehre.
Als Schüler habe er darüber nachgedacht, Medizin zu studieren – oder „irgendwas mit Menschen“. Inzwischen sei er aber sicher, dass er kein guter Arzt geworden wäre, sagt Ziegler. Außerdem habe er erkannt, dass Mathematik doch ziemlich viel mit Menschen zu tun hat, nicht zuletzt in der Lehre und beim gemeinsamen Problemlösen. Und damit wären wir wieder bei seiner Faszination für die vierdimensionalen Vielflächner. Anders als der begnadete, aber traurige Pianist hat Günter M. Ziegler die letzten 20 Jahre keinen Gedanken daran verschwendet, was er geworden wäre, wenn nicht Mathematiker. Ein Glück!
