„Es braucht Menschen, die nicht nach Schema F arbeiten.“

Im Portrait / Marén Heinzelmann,
Lehrerin an der Annette von Rantzau Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein
Marén Heinzelmann

Die Corona-Pandemie verlangt uns viel ab. Die Schülerinnen und Schüler und wir Lehrkräfte mussten und müssen flexibel sein, schnell und spontan auf die neue Situation reagieren. Besonders die beiden Lockdowns stellten alles komplett auf den Kopf. Schule folgte vorher einem klaren Schema, wie etwas abläuft, einer klaren Taktung, was wie passiert. Umso wichtiger ist mir deswegen in dieser Situation der Diskurs mit den Jugendlichen: Was brauchen sie? Was ist am besten für sie? Das sind Dinge, die im normalen Tagesgeschäft oft ein bisschen herunterfallen. Insofern hat sich für mich ganz viel getan. Mir ist noch bewusster geworden, wie wichtig es ist, die Schülerinnen und Schüler mit ihren Bedürfnissen, Wünschen und Präferenzen ernst zu nehmen. Insofern hat Corona meine Einstellung und die Beziehung zu meinen Schülerinnen und Schülern gestärkt.

Um mit den Veränderungen auch an der Schule, die sich aus der Pandemie zwangsläufig ergaben, gut umzugehen, braucht es die richtige Haltung. Doch was ist „richtig“? Aus meiner Sicht ist das im Wesentlichen maximale Fehlertoleranz. Das klassische Bild von uns Lehrkräften ist, keine Fehler machen zu dürfen. Doch das ist schier unmöglich, etwa wenn man den Unterricht ab sofort rein digital durchführen muss. Natürlich passieren Fehler. Man sollte sich daher klarmachen: Als Lehrkraft darf ich Fehler zugeben und zeigen. Vor allem kommt es darauf an, sich auf die Schüler einzulassen und mit ihnen gemeinsam zu lernen. Wenn dann noch – wie in meinem Falle – das Kollegium mitzieht, Teamwork und gegenseitige Wertschätzung lebt, sind das gute Voraussetzungen. Mit dieser gemeinsamen Grundhaltung kann man an einem Strang ziehen, etwas ausprobieren oder, wenn es nicht funktioniert, sein lassen.

Oft höre ich in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Transformationsprozess in Schulen aktuell eher eine Frage der Ressourcen oder eine Frage der Haltung ist. Ich denke: beides. Es braucht Ressourcen und Know-how. Zum Beispiel für den Umgang mit Lernplattformen. Wenn man mit dem Digitalen fremdelt, ist es schwer. Deswegen ist das Know-how unabdingbar. Genauso wichtig ist natürlich, dass man das tatsächlich möchte. In meinem Kollegium haben wir überlegt: Was nehmen wir aus dem Lockdown mit? Was hat gut funktioniert? Das sind beispielsweise die Onlinekonferenzen. Sie klappen gut und schonen Ressourcen. Aber dafür braucht es die Einstellung, Neues mitnehmen zu wollen und für Anpassungen bereit zu sein – und selbstverständlich die technische Ausstattung. Schließlich ist Digitalisierung an den Schulen mittlerweile keine Frage mehr des „Ob“, sondern des „Wie“. Dafür sollten wir uns meiner Meinung nach die notwendige Power ins Haus holen, also Menschen, die sich damit auskennen.

Mir hat Corona mit seinen ganzen Auswirkungen für den Schulbetrieb auch deutlich vor Augen geführt, wie entscheidend die viel zitierten „Problemlösungskompetenzen“ sind. Oder anders formuliert: Wir Lehrerinnen und Lehrer müssen mehr denn je Kompetenzen vermitteln. Das fängt damit an, dass die Jugendlichen noch mehr das Lernen lernen sollten. Damit meine ich verstehendes, problemlösungsorientiertes Lernen. Unser Job ist nicht Wissen, sondern Fähigkeiten zu „liefern“, damit die Jugendlichen Lust haben, Sachen alleine zu machen, und in der Lage sind, mit Veränderungen umzugehen. Nach meinem Empfinden brauchen wir in den Schulen mehr Expertise, wie man kompetenzorientiert, interessen- und selbstgeleitet sowie neigungsorientiert unterrichtet.

Natürlich müssen die Schülerinnen und Schüler die Grundlagen können, wie zum Beispiel Rechtschreibung, Grammatik oder Mathematik. Aber es macht ihnen noch mehr Spaß, wenn sie auch den Weg wissen, wie sie etwas hinbekommen.

Damit die Schülerinnen und Schüler tatsächlich etwas lernen und erfolgreich sind, müssen sie Vertrauen spüren und den Sinn des Ganzen verstehen. Das ist reine Beziehungsarbeit. Wer seine Stunden zwar perfekt durchplant, aber das Vertrauen der Klasse nicht hat, wird als nicht authentisch wahrgenommen. Dann wird die in der Theorie schönste Stunde nicht funktionieren. Je freier die Köpfe der Kinder sind, desto leichter kann man mit ihnen arbeiten.

Das ist auch der Grund, dass manche Jugendliche sogar unter schwierigen Voraussetzungen gute Leistungen in der Schule bringen. Der Klassenraum wird dann zum Schutzraum, weil dort eine bestimmte Atmosphäre herrscht und bestimmte Regeln gelten. Die sind nicht immer perfekt, aber das Klima ist von Vertrauen und Wohlfühlen geprägt, und es herrscht das Gefühl: Alles ist safe. In dieser Umgebung haben wir ein gemeinsames Ziel und arbeiten an unserer Zukunft, wie beispielsweise dem Abschluss, einem Projekt oder einer Prüfung. Da kann zu Hause was auch immer passiert sein. Diesen Rucksack lassen die Kinder vor der Tür. Daher ist der Einfluss einer Lehrkraft auf die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler durchaus hoch. Dennoch sollte man das nicht überschätzen. Es ist nur ein Faktor. Weitere Faktoren sind gute Elternarbeit, die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt oder den Therapeuten, den Großeltern oder Freunden der Kinder. Das sollte ein Netzwerk sein, das sich bespricht und im Austausch ist. Denn jedes Verhalten hat einen bestimmten Grund. Die wenigsten Menschen sind bösartig und machen etwas, weil sie generell gerne Unruhe stiften möchten.

„Netzwerk“ ist auch das Stichwort oder Manko, wenn ich mir anschaue, wie Deutschland insgesamt zum Thema Bildung aufgestellt ist. Denn wir sind meines Erachtens noch nicht genug vernetzt. Erst recht nicht länderübergreifend. Das föderale System ist durchaus vorteilhaft. Aber gleichzeitig hat es im Bildungsbereich den Nachteil, dass auf Länderebene viel Unterschiedliches passiert. Die Unterschiede beziehen sich bereits auf die Grundüberzeugungen. So lehnen viele Bundesländer Gemeinschaftsschulen komplett ab. In diesem Bereich passiert eine Menge, es gibt viele Institutionen und Vordenker, die sich kümmern, wie etwa „Schule im Aufbruch“.

Aber auf staatlicher Ebene sind viele Hürden da. Da ist eine große Angst vor mehr Autonomie in den Schulen, vor Kontrollverlust. Gerade beim Thema Digitalisierung sehen wir, wie unzureichend wir – staatlich gesehen – aufgestellt sind. So werden zwar viele Gelder frei, die aber nicht sinnvoll verwendet werden. Wir haben also an vielen Stellen eine zu bürokratische Haltung. Die Schulen, die sich trauen, das über Bord zu werfen, sind noch nicht stark genug und unzureichend vernetzt. Dafür benötigen alle Schulen gutes Personal, ausreichend Ressourcen, ein gutes Leitungsteam und Menschen, die nicht nach Schema F arbeiten. Auch das ist letztlich eine Frage der Haltung.

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